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Verschwörungsesoteriker wollen „Gotteshäuser“ in der Coronakrise für regierungskritische Zwecke instrumentalisieren

Kritische Einschätzung zur Initiative „Nikolaikirche ist überall – öffnet die Gotteshäuser. Jetzt!“ 

von KR PD Dr. Haringke Fugmann und Dr. M. Pöhlmann, Landeskirchlicher Beauftragter der Evang.-Luth. Kirche in Bayern für religiöse und geistige Strömungen

Worum geht es?
Selbsternannte „Wahrheitsforscher“ haben am 26. April 2020 im Internet einen „Aufruf“ verbreitet. Sie wenden sich darin „an alle Menschen, die ihre Freiheit lieben und die bereit sind, für ihre grundlegenden Rechte öffentlich einzustehen“.
Zu den Unterstützern zählen u. a. Forscher, die in der aktuellen Debatte vom Robert-Koch-Institut (RKI) abweichende Meinungen vertreten, sowie Verschwörungstheoretiker und rechte Esoteriker.
In dem zweiseitigen Papier führen die drei Initiatoren (Peter Herrmann, Tina und Erich Hambach) darüber Klage, dass die „natürlichen/gottgegebenen Rechte“ von „sog. ‚Volksvertretern‘ mit Füßen getreten“ und „in einem Akt der Willkür“ entzogen worden seien. In Wahrheit seien die von der Regierung zum „Schutz der Gesundheit“ getroffenen Maßnahmen angeblich der Versuch, die totale Kontrolle über die Bevölkerung und die Massenmedien zu gewinnen und schließlich Zwangsimpfungen durchzusetzen. Die Initiatoren berufen sich dabei auf angeblich „wirkliche Experten“, die „Covid-19 aufgrund der Faktenlage […] für nicht gefährlicher halten als die übliche Grippe/Influenza.“
Die Leser*innen werden dazu aufgerufen, die jeweilige Kirchengemeinde, Moschee oder Synagoge u. a. telefonisch dazu aufzufordern, die „Gotteshäuser“ ab 28. April 2020 regelmäßig um 19 Uhr zu öffnen. Die Kirchen hätten – so die Initiatoren – den Auftrag, „jenen Menschen Asyl zu bieten, die verfolgt werden und denen ihre Rechte genommen werden.“ Wenn Menschen sich zu Meditation und Gebet in den Kirchen versammelten, könnte das – so die pseudowissenschaftlich-esoterische Vorstellung – „gemäß Quantenphysik ein Bewusstseinsfeld“ erschaffen, „das weit über das einzelne Gotteshaus hinausreicht und zu einem verbindenden Element aller Menschen wird.“
Wer sind die Initiatoren?
Die drei Initiatoren gehören zur umstrittenen Initiative „Friedensweg“, die zuletzt am 21. Dezember 2019 in der Erdinger Stadthalle eine Friedenskonferenz durchgeführt hat.
• Peter Herrmann (Gmund) ist nach eigenen Angaben u. a. Simultanübersetzer. Er absolvierte verschiedene Ausbildungen – u. a. zum Fußreflexzonenmasseur, Yogalehrer und Reinkarnationstherapeuten. Gemeinsam mit dem umstrittenen Buchautor Jan Udo Holey alias Jan van Helsing war er als Verleger tätig und betrieb mit ihm in Nürnberg eine Esoterikbuchhandlung, in der auch rechte Esoterik verbreitet wurde.

• Tina und Erich Hambach (Baiern) zählen zu den Gründern der esoterischen Initiative „Friedensweg“. Erich Hambach (Jg. 1963), seines Zeichens „Querdenker, Finanzexperte und Wahrheitsforscher“ zeigt keinerlei Berührungsängste mit rechten Esoterikern und umstrittenen Umfeldorganisationen wie der Anti-Zensur-Koalition (AZK) des Schweizers Ivo Sasek. Dort ist er bereits mehrfach aufgetreten. 2016 veröffentlichte Hambach sein mit Verschwörungstheorien durchsetztes Buch „Bargeld Ade! Scheiden tut weh“. Darin geht er von einer Weltverschwörung durch die Illuminaten aus und macht sich Gedanken des Rechtsesoterikers Jan Udo Holey alias Jan van Helsing zu eigen. Ausdrücklich dankt er im Nachwort dem britischen Reptiloiden-Verschwörungs-theoretiker David Icke sowie „Anastasia“, der fiktionalen Hauptfigur der gleichnamigen zehnteiligen Buchreihe des russischen Schriftstellers Wladimir Megre und Namens-geberin der umstrittenen rechtsesoterischen Anastasia-Bewegung.

Wer zählt zu den Unterstützern?
Dazu zählen Wissenschaftler, die in der aktuellen Debatte vom RKI abweichende Meinungen zum Coronavirus vertreten.
• Der HNO-Arzt Dr. Bodo Schiffmann betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er seit einigen Wochen u. a. Videos rund um das Thema „Corona“ veröffentlicht, die sich mehrheitlich kritisch auch gegen die vom RKI veröffentlichten Deutungen der von diesem selbst gelieferten Zahlen wenden. Daneben greift er auf weitere Statistiken anerkannter Quellen, auf Zeitungsmeldungen und auf dramatische Einzelfallschilderungen, die ihm zugesandt wenden, zurück, um für seine Position zu werben. Er ist Mitgründer der „Mitmach-Partei“ „Widerstand2020“.
• Prof. Sucharit Bhakdi, emeritierter Professor der Universität Mainz für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene, hat sich in den letzten Wochen auf Youtube und in Interviews zur Corona-Pandemie geäußert. Dabei hat er die Gefährlichkeit des Virus als geringer eingeschätzt als das RKI es tut und die Maßnahmen der Regierung als „sinnlos und selbstzerstörerisch“ bezeichnet.
Wenn Schiffmann und Bhakdi den von Peter Herrmann und Tina und Erich Hambach formulierten Aufruf „Nikolaikirche ist überall!“ unterstützen, der mit pseudowissen-schaftlichen Theorien argumentiert, wonach „Gebet und Gesang […] gemäß Quantenphysik ein Bewusstseinsfeld“ erschaffen, „das weit über das einzelne Gottes-haus hinausreicht“, so verlassen sie damit den Bereich anerkannter Naturwissen-schaften.
• Genannt werden als weitere Unterstützer u. a. die Verschwörungstheoretiker Daniele Ganser und Dieter Broers. Zu den Unterstützern zählt auch der rechte Esoteriker Jo Conrad, der in seinen Büchern für die antisemitische Germanische Neue Medizin wirbt, sowie Ruediger Dahlke, ein promovierter Arzt, Homöopath, Psychotherapeut, esoterischer Buchautor und Geschäftsmann. Auch der Journalist Hermann Ploppa, der in seinen Büchern Verschwörungstheorien und geschichtsrevisionistisches Gedankengut verbreitet, wird genannt.

Wie ist dieser Aufruf einzuschätzen?
Mit diesem Aufruf versuchen die Initiatoren, weitere Unterstützer zu gewinnen und religiös motivierte Menschen zu mobilisieren. Für Außenstehende sind die Hintergründe und unterschiedlichen Motive nicht sofort erkennbar. Auffällig ist, dass die Initiatoren die Nikolaikirche (Leipzig) als Symbol für die Friedensgebete während der friedlichen Revolution in der DDR für eigene Zwecke instrumentalisieren. Aufgrund der Gleich-setzung der damaligen historischen Situation mit der Gegenwart wird der irreführende Eindruck erweckt, wir lebten derzeit in einer Diktatur. Als problematisch ist der Versuch zu bezeichnen, die Initiatoren und Unterstützer sollten sich jetzt dafür einsetzen, als vermeintlich Verfolgte um Asyl in den Kirchen nachzusuchen.
Deshalb ist die Initiative „Nikolaikirche ist überall – öffnet die Gotteshäuser! Jetzt!“ als Versuch zu betrachten, die Kirchen für rechtsesoterische und regierungskritische Zwecke zu instrumentalisieren. Wir raten von einer kirchlichen Beteiligung und Unter-stützung dringend ab.


Hintergrundinformationen: Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona
Verschwörungstheorien werden derzeit massiv verbreitet: Wurde das neue Virus nicht doch in einem Labor gezüchtet? Wollen verborgene Mächte vielleicht eine neue Weltordnung einführen? Steckt ein weltbekannter Milliardär hinter alledem? Kein Wunder, dass anerkannte Medien derzeit mit aller Macht versuchen, Fake News zu entlarven und Verschwörungstheorien als solche zu identifizieren, um so ihrer Informationspflicht und ihrem Bildungsauftrag zu entsprechen. Aber die Situation ist komplexer, als es aussieht.
• Der Begriff „Fake News“ als Bezeichnung für absichtliche Falschmeldungen wird seit einigen Jahren in besonders intensiver Weise von US-Präsident Donald Trump verwendet, der damit Nachrichten anschwärzt, die seiner politischen Agenda widersprechen. Der Vorwurf, etwas sei „Fake News“, beinhaltet also nicht nur die Behauptung, eine Nachricht sei inhaltlich falsch; vielmehr handelt es sich dabei aus politik- und medienwissenschaftlicher Sicht um einen Kampfbegriff, der Andersdenkende bzw. ihre Ansichten abwerten soll. Wer auf andere zeigt und sie der „Fake News“ bezichtigt, macht damit deutlich, dass er selbst politische Interessen verfolgt und eine absolute Deutungshoheit für sich beansprucht. Es ist daher nicht unproblematisch, wenn Medien gegenwärtig den Begriff „Fake News“ in inflationärer Weise gebrauchen.
• Anstatt des umgangssprachlichen Begriffs „Verschwörungstheorie“ hat sich in der politischen Bildungsarbeit und in der kirchlichen Weltanschauungsarbeit die Differenzierung zwischen Verschwörungshypothese, -ideologie und -mythos als sinnvoll erwiesen: Bei einer Verschwörungshypothese wird zunächst nur der Verdacht formuliert, dass eine Verschwörung bzw. ein Betrug stattfindet. In einer Demokratie ist die Äußerung einer solchen Verschwörungshypothese legitim und eine wichtige Funktion etwa des investigativen Journalismus.
Eine Verschwörungsideologie hingegen ignoriert die empirischen Belege, die gegen eine Verschwörungshypothese sprechen. Anhänger*innen von Verschwörungsideologien haben oft ein klares Feindbild, ein schwarz-weißes Weltbild und gewinnen aus der vermeintlichen Gewissheit, es besser als alle anderen zu wissen, ein starkes Selbstbewusstsein.
Bei Verschwörungsmythen schließlich wird angenommen, dass nicht-menschliche Akteure (z. B. Aliens) an einer Verschwörung beteiligt sind.
Übertragen auf die aktuelle Corona-Krise heißt das: Wer ausgehend von den statistischen Veröffentlichungen des RKI und anderer anerkannter Quellen zu einer anderen Interpretation der Bedrohlichkeit der Corona-Pandemie kommt als das RKI selbst, und wer aufgrund dieser anderen Deutung andere politische Entscheidungen fordert als die, die von den Regierenden getroffen werden, ist noch kein Verschwörungstheoretiker, sondern vertritt zunächst eine abweichende Meinung; ob diese dann richtig oder falsch ist, muss zur Überprüfung anderen Wissenschaftler*innen des gleichen Fachbereichs überlassen werden.

Bayreuth/München, 28.4.2020